Die Zeit, 04.05.2005

Hitlers profitierende Helfer

Die SS lieferte deutschen Bergbauunternehmen Zwangsarbeiter, die sie bis zum Tode ausbeuten durften und sollten. Das Grundgesetz zieht eine Lehre daraus: »Eigentum verpflichtet«

Von Werner Müller

Es gibt derzeit eine Tendenz im Umgang mit der jüngsten deutschen Vergangenheit, die das Interesse auf die Person Adolf Hitler als Quelle allen Übels lenkt. Hitler wurde aber, das darf nicht vergessen werden, zum Führer der Deutschen nicht aus eigener Kraft, sondern durch deren Zustimmung.Unter Tage im Ruhrgebiet 1945: Hier war es für jedermann hart, doch Zwangsarbeiter mussten unter Bedingungen schuften, die im Wortsinne mörderisch waren.

Bereits 1932 hatten die Deutschen die NSDAP zur parlamentarisch stärksten Partei gemacht. Die meisten NS-Wähler kannten weder das Parteiprogramm der Nationalsozialisten noch Hitlers enthüllende Schrift Mein Kampf. Doch die Naziparole »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«, vor allem aber jener wörtlich gemeinte Schlachtruf »Juda verrecke!« waren unüberhörbar. Gleichwohl, Millionen wählten Hitler, viele von ihnen gerade auch wegen seiner Hasspropaganda.

Die NS-Parole »Hitler ist Deutschland und Deutschland ist Hitler« war zwar grundsätzlich falsch. Zehntausende leisteten Widerstand, Millionen lehnten den Nationalsozialismus ab – aber leider trug eine große Mehrheit den vermeintlichen »Alleskönner« Hitler zu seinen Triumphen und machte damit seine verbrecherischen Kriege möglich. Kriege, unter deren Schirm die anderen Verbrechen wie der Völkermord an den Juden, an den Zigeunern, die Massenmorde an Behinderten, an russischen Kriegsgefangenen, politischen Gegnern und anderen überhaupt erst begangen werden konnten.

Die Ausbeutung, die Versklavung von KZ-Häftlingen, ihre gezielte »Vernichtung durch Arbeit«, wie die SS-Führung ihre Vorgehensweise menschenverachtenderweise, aber zutreffend nannte, waren ein Teil dieses NS-Kriegssystems.

Diese Maßnahmen wurden von unzähligen Deutschen getragen: SS-Schergen, Polizisten, Bewachern, Soldaten, Bankiers, Beamten, Wirtschaftsunternehmern, darunter auch Zechenbetreibern.

Die Verbrechen ließen sich nicht »wiedergutmachen«. Diese Camouflageformel stand für materielle Entschädigungsleistungen an die Überlebenden oder ihre Angehörigen infolge des Luxemburger Abkommens von 1952. Das Geld konnte kein Leid ungeschehen machen.

Die Entschädigungszahlungen der Bundesrepublik beschränkten sich darüber hinaus auf jene Menschen, die das Glück hatten, diesseits des »Eisernen Vorhangs« zu leben und die zudem gesund und tatkräftig genug waren, den mitunter langwierigen Rechtsweg zu beschreiten, um zumindest geldwerte Kompensation für Enteignungen oder nachzuweisende gesundheitliche Beeinträchtigungen einzufordern.

Die im Schatten Verbliebenen freilich sah man nicht, oder man wollte sie nicht sehen. Also alle, die zu alt, zu gebrechlich, zu verletzt waren, um ihre Ansprüche den deutschen Behörden oder zumindest der Öffentlichkeit kundzutun. Oder jene viele Tausende physisch Davongekommenen, die nach dem Ende der NS-Herrschaft in Heimatländer zurückkehrten, welche sich im sowjetischen Machtbereich befanden. Die konträre politische Couleur der Staatsmacht diente als Vorwand, diesen Menschen eine materielle Kompensation der erlittenen Schäden vorzuenthalten.

Nach der Implosion des kommunistischen Systems in Osteuropa ließ sich die Fiktion der Unerreichbarkeit der Überlebenden nicht länger aufrechterhalten.

Hinzu kam, dass sich auch in den westlichen Staaten Menschen zu Wort meldeten, die Opfer des nationalsozialistischen Zwangssystems gewesen waren, es jedoch bislang versäumt hatten, ihre bestehenden materiellen Ansprüche in den vom Gesetzgeber festgesetzten Zeitraum den deutschen Behörden anzuzeigen. Unter anderem, weil die körperlichen Schäden, vor allem aber die seelischen Verletzungen dies nicht eher zugelassen hatten. Um ihretwillen wurde der Zwangsarbeiterfonds gegründet.

Sozialpflichtigkeit des Eigentums ist wichtiger als Shareholder-Value

Unser Unternehmen, die RAG Aktiengesellschaft, hat mit 100 Millionen Mark zum Fonds »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« beigetragen. Nicht weil eine Vorschrift oder gar ein Gesetz uns dazu veranlasst hätte. Die Ruhrkohle AG, unsere Vorgängerfirma, wurde erst 1969 gegründet. Eine positivrechtliche Verpflichtung bestand daher nicht. Doch es ist an das Grundgesetz zu erinnern, dessen Artikel 14 Absatz 2 lautet: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«

Dieser Satz darf keine unverbindliche Absichtserklärung bleiben. Die gesellschaftliche Eigentumsverpflichtung der Verfassung genießt Vorrang gegenüber kurzfristigen Erwägungen, die sich ausschließlich im Shareholder-Value widerspiegeln.

Davon abgesehen erweist eine länger währende Beobachtung der Unternehmensergebnisse, dass Firmen, die ihre Geschäftsinteressen in eine Gesamtstrategie einbinden und dabei auch über das vorgeschriebene Ausmaß ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung aus Verantwortung nachkommen, am Ende wirtschaftlich erfolgreicher sind als Unternehmen, deren Geschäftsleitungen unentwegt lediglich auf ihre Finanzdaten starren.

Diese Einstellung hat unser Unternehmen auch dazu bewogen, den Zwangsarbeitseinsatz im Kohlebergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und insbesondere im Zweiten Weltkrieg wissenschaftlich erforschen zu lassen. Es versteht sich, dass die RAG diese historische Untersuchung finanziert hat – und zwar mit einem Betrag von mehreren Millionen Euro.

Die ersten beiden Bände sind mittlerweile erschienen. Sie beschreiben schreckliche Vorgänge, die sich in einem uns vertrauten Milieu zugetragen haben, dem Bergbau. Für uns Nachgeborene ist heute kaum vorstellbar, dass beispielsweise im Gebiet der Stadt Essen, wo sich unsere Konzernzentrale befindet, vor 60 Jahren während des Krieges zwei Außenstellen des KZs Buchenwald, 55 Kriegsgefangenenlager und 287 Fremdarbeiterlager bestanden, in denen Ende 1944 220000 Zwangsarbeiter und 75000 Kriegsgefangene schuften mussten.

Im Frühjahr 1941 wurde die Reichsvereinigung Kohle etabliert. Es handelte sich um eine Selbstverwaltung freier Unternehmen, die formal der Kontrolle des Reichswirtschaftsministers unterstand. Dadurch ergab sich eine unentwirrbare Verbindung von privaten Firmen und staatlichen Behörden. Die relative wirtschaftliche Unabhängigkeit wurde mit einer Komplizenschaft zum NS-Regime erkauft. Doch bereits ein Jahr nach der Installierung der Reichsvereinigung Kohle befahl die NS-Regierung den Zwangseinsatz von Ausländern und regelte weitgehend auch deren Zahl und ihre Verteilung auf die einzelnen Regionen und Unternehmen. Die Strategie, sich durch ein Arrangement mit der NS-Führung ein Mindestmaß an Eigenständigkeit zu bewahren, erwies sich als Illusion.

Im Jahre 1942 konnte über den verbrecherischen Charakter der Naziherrschaft kein Zweifel mehr bestehen. Und trotzdem fehlte den meisten deutschen Unternehmern noch das Bewusstsein ihrer persönlichen Verstrickung in die Unrechtstaten. Oder, was noch schwerer wiegt, sie ordneten das Wissen von begangenen Untaten dem Sieg im Krieg und den eigenen Geschäftsinteressen unter.

Ein Viertel der Belegschaft in den Zechen waren Zwangsarbeiter

Die Dimensionen waren gewaltig. Zu Beginn des Jahres 1941 arbeiteten 25349 Kriegsgefangene und ausländische Zivilisten im deutschen und österreichischen Steinkohlebau. Zwei Jahre später ist allein die Zahl der so genannten Ostarbeiter, also hauptsächlich russische Kriegsgefangene, bereits knapp zehnmal so hoch: mehr als 220000 Menschen. Sie stellen ein Viertel der Belegschaft im Steinkohlebau unter deutscher Herrschaft. Im März 1944 beträgt der Ausländeranteil im »großdeutschen« Steinkohlebergbau über 40 Prozent der Belegschaft.

Nach Beginn des Russlandfeldzuges und der damit einsetzenden Gefangennahme von Millionen sowjetischer Soldaten durch die Wehrmacht erlangten die Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion unter den gepressten Ausländern eine zahlenmäßig dominante Stellung.

Die meisten deutschen Bergbauunternehmen und deren regionale Organisationen »begrüßten«, wie es in der Untersuchung heißt, den »nahezu vollständigen Schwenk des Ausländereinsatzes zur Zwangsarbeit«. Denn die Zwangsarbeiter wurden bewacht und waren nach Belieben einsetzbar.

Obgleich ihnen hohe körperliche Leistungen abverlangt wurden, war ihre Ernährung in der Regel unzureichend. Die Essensrationen wurden von den Arbeitsleistungen abhängig gemacht. Auf diese Weise standen die Zwangsarbeiter unter dem physischen und psychischen Druck, über ihre körperliche Leistungsfähigkeit hinauszugehen, um nicht zu verhungern. Die so genannte »Leistungsernährung« wirkte im seinerzeitigen Sprachgebrauch »selektierend«. Die weniger Leistungsfähigen wurden, wie es hieß, »ausgeschieden«. Sie gingen an Unterernährung zugrunde.

Darüber hinaus waren die Zwangsarbeiter andauernder körperlicher Gewalt ausgesetzt – zumindest in den letzten Kriegsjahren ein alltägliches Phänomen, vielfach gebilligt von den Zechenleitungen, die eng mit der Gestapo zusammenarbeiteten.

Auf Betreiben von Rüstungsminister Speer wurden seit 1942 auch Gefangene des Konzentrationslagers Auschwitz in benachbarten Zechen eingesetzt. Zunächst in der nur wenige Kilometer von Auschwitz gelegenen Steinkohlezeche Andreasschächte. Diese gehörte zur Bergwerksverwaltung der Reichswerke Hermann Göring. In den folgenden Jahren wurde ein halbes Dutzend Außenlager von Auschwitz in der Peripherie der oberschlesischen Kohlezechen eingerichtet.

Als Bergbauunternehmen trat auch der I.G.-Farben-Konzern auf, der sich die Kohleversorgung für ein Buna-Werk im Umkreis von Auschwitz sichern wollte. Die SS, die über viele freiwillige Helfer verfügte, setzte diese Arbeit gezielt als Mordinstrument ein und verdiente gleichzeitig gut daran, denn die jeweiligen Bergbauunternehmen zahlten für ihre Arbeitssklaven an die SS. Die »Vernichtung durch Arbeit« geriet auch in den Kohlezechen zum integralen Teil des systematischen Völkermords. Der in den jüngsten Forschungsarbeiten über die Zwangsarbeit im Bergbau angestellte Vergleich mit dem Einsatz ausländischer Arbeiter in deutschen Zechen während des Ersten Weltkrieges erweist erst das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen. Die systematisch betriebene, rassistische Durchdringung der Zwangsarbeit war kein Charakteristikum des Kaiserreichs. Die planmäßige Vernichtung ganzer Menschengruppen durch unmenschliche Arbeit, das ist das Werk der Nazis.

Wir dürfen jedoch nicht bei dem Entsetzen stehen bleiben. Selbst Mitleid mit den Opfern reicht nicht aus. Die zentrale Rolle der Menschenwürde in unserem Grundgesetz sowie die Betonung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums sind Früchte dieser Erfahrung während der NS-Herrschaft; sie sind eine Brücke zwischen Geschichte und Gegenwart.

Werner Müller ist Vorstandsvorsitzender des Bergbau- und Energie-Unternehmens RAG Aktiengesellschaft. Von 1998 bis 2003 war er Bundeswirtschaftsminister.

Jeder der beiden im Essener Klartext-Verlag erschienenen Bände »Zwangsarbeit im Bergwerk« (Autoren: Klaus Tenfelde und Hans-Christoph Seidel) kostet 45 Euro. Beide Bände mit insgesamt über 1600 Seiten sind auch zusammen für 79,90 Euro erhältlich. Band 1 behandelt in 18 Beiträgen die Arbeitsverhältnisse in den deutschen und den besetzten Kohlenrevieren in Polen, Frankreich, Belgien, Holland und der Ukraine sowie im slowenischen Braunkohlebergbau. Band 2 enthält über 400 wissenschaftlich kommentierte Dokumente. In den kommenden Jahren sollen acht weitere Bände zur Zwangsarbeit im Bergbau folgen.


zit. nach:
http://www.zeit.de/2005/19/Essay_M_9fller