Süddeutsche Zeitung, 22.05.2007

Vision einer gerechten Welt

Die SPD und ihr Abschied von der Arbeiterbewegung

Eine alte Volksweisheit besagt: Nur wer weiß, woher er kommt, weiß, wo er sich befindet und wohin sein Weg führen soll. Die Historikerin Helga Grebing versucht, diese Fragen für die deutsche Sozialdemokratie zu beantworten. Ausführlich für den Weg, den sie seit ihrer Gründung zurückgelegt hat. Knapper für ihren gegenwärtigen Zustand. Und nur mit einigen Strichen für ihre mutmaßliche Zukunft. Insgesamt ist ihr das gut gelungen. Nicht mit einer erdrückenden Fülle von Daten und Fakten. Und auch nicht mit der Besserwisserei, die manche Wissenschaftler bei den Beurteilungen im Nachhinein nicht ganz unterdrücken können. Sondern mit einer gut lesbaren Darstellung, die die notwendige Distanz wahrt, aber doch immer wieder mitfühlendes Verständnis für die Menschen erkennen lässt, um deren Lebensbedingungen es jeweils ging. Dabei werden Fehlentscheidungen und Irrtümer keineswegs verschwiegen.
Der Rückblick bringt keine sensationellen Neuigkeiten. Aber er vermittelt Erkenntnisse, die den meisten Lesern so deutlich nicht vor Augen stehen dürften. Etwa die Tatsache, dass die Anfänge der Arbeiterbewegung bis in das Jahr 1830 und damit weit vor die Gründung des Lassalle'schen Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins im Jahr 1863 zurückreichen. Dass es von Anbeginn darum ging, die Arbeiter vor den sozialen Auswirkungen der kapitalistischen Produktionsweise zu schützen und ihnen die gesellschaftliche Gleichberechtigung zu erstreiten. Und dass die Gewerkschaften aus denselben Wurzeln erwachsen sind.
Einen breiten Raum nimmt die Schilderung der Rolle der SPD in der Weimarer Republik ein. Zu Recht wird insbesondere in Erinnerung gerufen, dass keine andere Partei so nachdrücklich vor dem Nationalsozialismus gewarnt und die Demokratie bis zuletzt verteidigt hat wie die SPD. Und dass zum Scheitern der Weimarer Republik die Kommunisten wesentlich beigetragen haben, weil sie nicht die Nationalsozialisten, sondern die als Sozialfaschisten verunglimpften Sozialdemokraten als ihre Hauptfeinde bezeichneten und bekämpften.
Für die Zeit nach 1945 beeindruckt, wie der Brückenschlag zur katholischen Kirche und der Weg der SPD zum Godesberger Programm und in die Regierungsverantwortung nachgezeichnet und auch die charismatische Persönlichkeit Willy Brandts gewürdigt wird. Etwas knapp gerät dabei die Beschäftigung mit den innerparteilichen Auseinandersetzungen, zu denen die Positionen derjenigen 68er geführt haben, die die Partei im Sinne ihrer "systemüberwindenden" Vorstellungen verändern wollten und dabei die Realität mehr und mehr aus den Augen verloren. Nicht nur in München hatte das bis in die achtziger Jahre hinein wesentliche Einbußen bei den Wahlen zur Folge. Vorher war die SPD in Bayern auf der kommunalen Ebene keineswegs so marginalisiert, wie das die Autorin zutreffend für die Landesebene feststellt. Immerhin lebte damals jeder Zweite in einer Gemeinde mit einem sozialdemokratischen Bürgermeister oder einem sozialdemokratischen Landrat. Und München, Nürnberg und Augsburg haben noch heute sozialdemokratische Oberbürgermeister.
Beachtlich wiederum die Darstellung der Entwicklung, die die Partei in der Regierungsverantwortung in der sozial-liberalen Koalition von 1969 bis 1982 und anschließend bis 1998 wieder in der Opposition nahm, in denen sie konstruktiv am Zustandekommen der deutschen Einheit mitwirkte. Da wird auch deutlich, wie die SPD die Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung in relevantem Ausmaß integrierte. Und wie sie nach langem Zögern den Grünen den Weg in die volle politische Verantwortung eröffnete. Manche, die erst jetzt mit jahrzehntelanger Verspätung Forderungen aufgreifen, die sich beispielsweise schon im Berliner Programm von 1989 fanden, sollten das sorgfältig lesen.
Für den gegenwärtigen Zustand der SPD liefert das Buch interessante Aspekte, die verständlich machen, warum sich die Sozialdemokratie endgültig vom Begriff der Arbeiterbewegung verabschieden musste und zur linken Volkspartei wurde. Hier wird unter anderem das kontinuierliche Absinken des Anteils der Arbeiterschaft an der Erwerbsbevölkerung, das Wachsen des Dienstleistungsbereiches, aber auch die sich abzeichnende Neudefinition dessen, was unter Arbeit zu verstehen ist, angeführt. Was nach Ansicht der Autorin bleibt, sind die Grundwerte als maßgebende Kriterien sozialdemokratischer Politik und die soziale Demokratie als heutige Verkörperung dessen, was früher als demokratischer Sozialismus angestrebt wurde. Und das nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern als europäisches Leitbild und als Vision einer gerechteren Weltordnung.
Das Buch lässt auch deutlich werden, dass einige aktuelle Probleme die Partei schon häufiger in ihrer Geschichte beschäftigt haben. So das Verhältnis zu den Gewerkschaften, das auch schon früher bei aller historischen Parallelität zwischen weitgehender Übereinstimmung und partiellen Gegensätzen schwankte. Oder der Umgang mit politischen Kräften links von der SPD. Was sich daraus lernen lässt, bedarf allerdings noch der weiteren Vertiefung. Insgesamt hat die Autorin eine Arbeit vorgelegt, mit der sie nach einem halben Jahrhundert aus ihrem Lebenswerk, nämlich der wissenschaftlichen Durchdringung der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer Geschichte, eine beeindruckende Summe gezogen hat. Den Mitgliedern der Sozialdemokratie und ihren Freunden könnte das Buch zu einem stärkeren Geschichtsbewusstsein und einem höheren Selbstvertrauen helfen. Kritische Beobachter und politische Wettbewerber werden vielleicht nach der Lektüre zu einer gerechteren Beurteilung - ja unter Umständen sogar zu einem gewissen Respekt gegenüber der ältesten Partei unseres Landes gelangen. Auch wird sich die Behauptung, das sozialdemokratische Jahrhundert sei kürzlich zu Ende gegangen, nicht mehr so leicht wiederholen lassen.

Hans-Jochen Vogel

HELGA GREBING: Geschichte der Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21.Jahrhundert. Vorwärts Buch, Berlin 2007. 324 S., 24,80 Euro.


zit. nach:
http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/243/115128/