WAZ, 09.04.2008

Erinnerung an das Unfassbare

Am 9. November 1938 ging die Bochumer Synagoge in Flammen auf. Eine szenische Lesung in den Kammerspielen begibt sich auf die Spur der möglichen Täter, Schauspieler lesen die Vernehmungsprotokolle

Von Sven Westernströer

An das womöglich dunkelste Kapitel in der Geschichte dieser Stadt erinnert eine Veranstaltung am kommenden Sonntag in den Kammerspielen: an den Brand der Synagoge während der Reichspogromnacht am 9. November 1938, die in diesem Jahr ihr trauriges Jubiläum erlebt. Vor 70 Jahren geschah das heute Unfassbare mitten unter uns, an Orten, die jeder Bochumer kennt. "Diese Vorstellung lässt erschaudern", meint Intendant Elmar Goerden, "denn das alles passierte nicht irgendwo und irgendwann. Sondern hier direkt in der Nachbarschaft. Das kann man nicht einfach davon so schieben."

Die dunklen Schatten der Vergangenheit - sie holen uns immer wieder ein. Und das ist auch gut so. Noch am Montag erlebte man den Bochumer Schauspieler Armin Rohde in einer beeindruckenden TV-Doku in der ARD, wie er auf den Spuren seiner Familie heraus bekam, dass sein Großvater ein beinharter Nazi gewesen war. Auch Prof. Klaus Tenfelde, Direktor des Instituts für soziale Bewegung, wüsste solche Geschichten aus seiner Familie zu erzählen. "Deshalb ist es ungemein wichtig, dass wir uns der Geschichte stellen", sagt er. "Wir müssen wissen, was damals los war."

Bewusst gewählt, steht der Titel des Abends ("Ich kann mich nicht entsinnen") dazu im Gegensatz: "Dieses Spannungsfeld zwischen Erinnern und Verdrängen ist hoch interessant", so Elmar Goerden, der selber aus einer jüdischen Familie stammt. Während der Reichspogromnacht ging die Synagoge zwischen Graben-straße und der heutigen Huestraße in Flammen auf: "Das war eine Brandorgie ohne Gleichen im ganzen deutschen Reich, von den SA- und SS-Schergen gemeinsam organisiert", erzählt Tenfelde. "So bekam die Judenverfolgung eine völlig neue Qualität."

Im Jahr 1949 mussten sich eine Reihe von Beschuldigten vor dem Bochumer Landgericht für den Brand der Synagoge verantworten - und just diese Vernehmungsprotokolle stehen im Mittelpunkt der szenischen Lesung in den Kammerspielen. Heraus gesucht hat sie Ingrid Wölk, Leiterin des Stadtarchivs: "Diesen Protokollen kann man merkwürdige Dinge entnehmen", sagt sie. "Denn alle waren dabei, aber keiner ist's gewesen ..."

Mitglieder des Schauspielhauses (darunter Thomas Anzenhofer, Manfred Böll und Intendant Goerden selbst) setzten diese widersprüchlichen Stellungnahmen in Szene: von dem damaligen OB, der von nichts gewusst haben will, über den Kreisleiter der NSDAP bis zum Feuerwehrmann. "Wie sich alle aus der Verantwortung stehlen wollten, hat eine grimmige Ironie", sagt Goerden. "Und die Justiz hat ihre Weste ebenfalls weiß gewaschen", ergänzt Tenfelde, "denn es gab keine Verurteilungen."

Die szenische Lesung in den Kammerspielen ist der Ausgangspunkt für eine Reihe von Veranstaltungen an verschiedenen Orten in Bochum, die sich mit NS-Verbrechen und deren Aufklärung beschäftigt. Infos dazu gibt es im Stadtarchiv. Für die Lesung am Sonntag, 13. April, 18 Uhr, die die Bochumer Symphoniker unter Leitung von Harry Curtis mit Stücken u.a. von Mozart und Arvo Pärt begleiten, gibt es noch Karten - gern auch für Schulklassen! Pro Schüler sind dann nur drei Euro Eintritt fällig. Alle Infos: 33 33 55 55.


zit. nach:
http://include.derwesten.de/archiv/detail.php?query=92417&article=1&auftritt=WAZ