WAZ Bochum, 07.09.2009

Sie sahen das Unheil kommen. Das Ruhrgebiet in den Augustwochen 1939 - ein Beitrag des Bochumer Historikers Klaus Tenfelde

Jedermann war klar, was kommen würde. Keinen Zweifel ließen die hektischen diplomatischen Bemühungen in den Augustwochen 1939, und ebenso wenig die nicht mehr verheimlichten Kriegsvorbereitungen: Hitler und seine Schergen würden Europa mit einem neuen Waffengang verheeren. Anders als 1914, als weithin helle Begeisterung die ins Feld ziehenden Soldaten begleitete, überwogen 1939 eher Skepsis, Abwarten, lethargisches Nichtstun (denn „die da oben“ handelten ja sowieso), auch angsterfüllte Erwartung, denn das Trauma des massenhaften Soldatentods eine Generation zuvor wurde nur zu gut erinnert.

Die, die als junge Soldaten die Schützengräben von 1914 bis 1918 überlebt hatten, waren nun in ihren besten Jahren. Was jetzt, in der Zeit seit Frühjahr 1939, geschah, das deuteten mindestens diese Älteren richtig. Um den Mangel an Arbeitern in der Montanindustrie zu lindern und die Aufrüstung zu stärken, wurde eine Verlängerung der Schichtzeit im Bergbau um eine Stunde verordnet. Bereits seit längerem herrschte so etwas wie Arbeitspflicht. Maßnahmen zur Disziplinierung nehmen zu, so durch die Einschränkung der Kündigungsmöglichkeiten.

Im August 1939 wurden Lebensmittelkarten eingeführt – alle wussten, was das hieß, überdies überschlugen sich die Meldungen über die Zuspitzung des ganz einseitig provozierten Konflikts mit Polen. „Ruhig und gefasst“ hätten die Menschen, so wird aus Wanne-Eickel berichtet, die durch Lautsprecher übertragene Hitler-Rede zum Überfall auf Polen vernommen.

„Zurückhaltung, Skepsis und Angst“ prägten die Stimmung in Recklinghausen-Hochlarmark - man hielt sich allseits zurück. Zu bedenken ist, dass nicht mehr frei gesprochen und berichtet werden konnte. Seit 1933 beherrschten die Nazis die Presse, die Vereine waren gleichgeschaltet, und dass man seine Zunge zu hüten hatte, war längst jedermann eingedenk einschlägiger Erfahrungen bewusst.

Was kommen würde, davon kündeten die Luftschutzsirenen erstmals schon am 3. September. Das waren allerdings nur Probealarme, aber immerhin, im Oktober schon fielen erste englische Bomben auf das Ruhrgebiet. Zahlreiche Arbeiter waren eingezogen worden, und die Schulen blieben meistens bis Mitte September geschlossen. Das zivile Leben ist militarisiert worden. Das hieß, dass diejenigen Reste an persönlicher Freiheit, die sich erhalten hatten und die durch die Vollbeschäftigung in rund zwei Jahren vor Kriegsbeginn eher wieder gemehrt worden waren, nun durch „Kriegsbedingnisse“ wie das zeitgenössisch hieß, noch viel stärker bedroht waren.

Die Polen im Revier

Andererseits: Der „Blitzkrieg“-Sieg über Polen blieb nicht ohne Folgen für die Stimmung. Skepsis hin oder her, man war ja doch stolz auf seine Jungs, außerdem wurde nun ja ein altes, noch von Bismarcks Politik der „Germanisierung“ herrührendes Ressentiment gegen das polnische Nachbarvolk gewaltsam befriedigt. Auf den ersten Blick erscheint verwunderlich, dass dies im Ruhrgebiet, wo es vor 1914 immerhin rund 450.000 Menschen polnischer Zunge gegeben hatte, kaum Folgen zeitigte. Schaut man genauer hin, dann gibt es Gründe dafür: Von diesen vielen Menschen, deren erfolgreiche Integration in der Region noch heute gern gerühmt wird, gab es in den 1930er Jahren kaum noch 100.000. Die meisten polnischen Arbeiter waren schon in den frühen 1920er Jahren zurückgewandert in den neuen polnischen Nationalstaat – oder sie waren fortgewandert in die belgischen und nordfranzösischen Kohlegruben. Wer blieb, tat dies mit dem festen Willen, sich zu integrieren, und das war dann die Zeit der Eindeutschung der polnischen Familiennamen.

Erst recht galt dies für die Masuren unter den Zuwanderern polnischer Zunge. Die polnische Gewerkschaft im Ruhrgebiet versank bis zur Selbstauflösung, ihr Vereinswesen erstarb nahezu, aber die noch bestehenden polnischen Organisationen wurden nach 1933 eher weniger behelligt. Im Übrigen hatte Hitler schon in „Mein Kampf“, bald dann nach der „Machtergreifung“, eine Politik der eingeschränkten Toleranz gegenüber nationalen Minderheiten verkündet. Das zügelte schon zu Beginn der NS-Zeit den Terror der SA gegen die Polen. Wo sie „Marxisten“ waren, erlitten sie die ganze Brutalität des Regimes. Als Arbeiter und Nachbarn durften sie leben, zumal man sie auf den zechen und in den Hüttenwerken schätzte.

So recht war es also kein Problem mehr, als kurz nach Kriegsbeginn die polnischen Organisationen dann doch verboten wurden. Grund dafür war, neben anderem, das neue Problem der Kriegsgefangenen und bald auch der zwangsverpflichteten polnischen Arbeiter, von denen es im Ruhrgebiet bald Hunderttausende geben sollte: Verbrüderungen und Sabotageakte könnten mit solcher Nachbarschaft unliebsam erleichtert werden.

Der „Gröfaz“

Sonst aber schien der Krieg, zunächst, erträglich. Trotz Rationierung der Lebensmittel litt kaum jemand Hunger, und in der Arbeitswelt gab es Vergünstigungen. Und dann die Siege der Wehrmacht: Die Besetzung Dänemarks und Norwegens, der Frankreichfeldzug. Man spekulierte auch unter Arbeitern über die Unbesiegbarkeit der Wehrmacht und die Genialität des „Gröfaz“, des „größten Feldherrn aller Zeiten“. Für den Widerstand gegen Hitler waren das schwere Zeiten. Erst 1942 stockte die Stimmung, und mit Stalingrad schlug sie an der Jahreswende 1942/43 um. Da lagen weite Teile des Ruhrgebiets bereits in Trümmern.


zit. nach :WAZ Bochum v. 07.09.2009