Laudatio auf Jürgen Kocka

von Werner Plumpe, Frankfurt am Main

Jürgen Kocka ist einer der international bekanntesten deutschen Historiker. Auf dem Feld der Unternehmens- und der modernen Sozialgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum wirkte er stilbildend. Dabei prägte er entscheidend eine der einflussreichsten Forschungsrichtungen der deutschen Geschichtswissenschaft, die moderne Sozialgeschichte, die auch einen neuen Zugang zu den Ursachen und Folgen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts suchte und damit ausdrücklich zur zivilgesellschaftlichen Selbstaufklärung der Bundesrepublik Deutschland beitragen wollte.
1941 als Sohn eines Ingenieurs in Böhmen geboren, in Linz und Essen aufgewachsen, studierte Jürgen Kocka ab 1960 Geschichte, Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Marburg, Wien und an der Freien Universität Berlin sowie in Chapel Hill/North Carolina, wo er 1965 den Grad des Master of Political Science erwarb. Früh kam Jürgen Kocka in Kontakt mit Gerhard A. Ritter, bei dem er 1969 an der FU Berlin promoviert wurde. Kockas Dissertation über die Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft bei Siemens gilt noch immer als Pionierstudie auf dem Gebiet der makrotheoretisch orientierten Unternehmensgeschichte. Mit Bezug auf die Organisationssoziologie und auf Max Webers Bürokratieansatz analysierte Kocka den Prozess innerer Bürokratisierung von Unternehmen im Übergang zur industriellen Großproduktion. In Anlehnung an die Kategorien Webers, aber auch in kritischer Differenzierung ihrer Grundannahmen, zeichnete die Arbeit die Veränderungen des kapitalistischen Industrieunternehmens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in ihren Auswirkungen auf die betrieblichen Herrschafts- und Organisationsverhältnisse, die Entstehung und Durchsetzbarkeit von Unternehmerentscheidungen, Produktion und Marktverhalten sowie auf Funktion und Situation des Personals nach.
Bereits Kockas Dissertation verwies auf die Grundlinien seiner weiteren wissenschaftlichen Arbeit. Zentral waren und blieben die Auseinandersetzungen mit Max Weber und seiner angloamerikanischen Weiterentwicklung einerseits und mit den insbesondere über die Frankfurter Schule weitergegebenen Traditionslinien des Marxismus andererseits. Stark beeinflusst durch Jürgen Habermas, Hans Rosenberg sowie Hans-Ulrich Wehler und als Mitglied im „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“, gehörte Jürgen Kocka bald zu den Impulsgebern einer Geschichtswissenschaft unter sozialgeschichtlichen Vorzeichen, die sich kritisch zu den etablierten Hauptlinien der eigenen Fachtradition und der bestehenden Gesellschaftsordnung begriff und Verknüpfungen zu den systematischen Nachbarwissenschaften suchte. Vor dem Hintergrund der zentralen Fragestellung nach den sozialen Vorraussetzungen und Folgen von Politik und Ideen entwickelte die moderne Sozialgeschichte ein besonderes Interesse an den Prozessen und Strukturen, die in den Motiven, Vorstellungen und Erfahrungen der Zeitgenossen nicht präsent waren, denen aber als Bedingungen und Folgen von Erfahrungen und Handlungen entscheidende Bedeutung zukam. Kocka gab mehrere grundlegende Sammelbände zur theoretischen Auseinandersetzung mit den Konzepten der historischen Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgeschichte heraus. Seit 1975 fungiert er als Mitherausgeber der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ und der Bielefelder Schriftenreihe „Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft“. Seine Habilitationsschrift zur Geschichte der Angestelltenschaft in den USA erweiterte sein ohnehin breites methodisches und theoretisches Spektrum um den internationalen Vergleich. Dieser Perspektive seiner Arbeiten waren zahlreiche Auslandsaufenthalte geschuldet: Während seiner Habilitation absolvierte Kocka ein Fellowjahr an der Harvard University, später folgten Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Princeton (1975/1976), Chicago (1984), Jerusalem (1985), New York (1990), Budapest (1992/1993), Stanford (1994/1995), Paris (1996), Wassenaar (2000) und Oxford (2004/05).
Nach der Schwerpunktsetzung im Bereich der Unternehmens- und Angestelltengeschichte widmete sich Kocka während seiner Professur in Bielefeld von 1973 bis 1988 insbesondere zwei Themenkomplexen: der Bürgertumsforschung und der Arbeitergeschichte. Letztere war Gegenstand von zwei seiner zentralen Arbeiten: Im Rahmen der groß angelegten „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ legte Kocka zunächst zwei Bände vor, die die Zeit zwischen 1800 und 1875 abdeckten. Der erste Band untersuchte die nicht-ständischen Unterschichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die auf die Veränderung ihrer Arbeitssituation und Lebensweise hinwirkenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kräfte. In differenzierender Auseinandersetzung mit dem Klassenbegriff, den er bereits in seiner 1973 erschienenen Studie „Klassengesellschaft im Krieg“ einer kritischen Würdigung unterzogen hatte, arbeitete Kocka Vorstufen einer klassenbewussten Lohnarbeiterschaft heraus. Mit Hilfe des gedanklichen Gerüsts eines Verlaufsmodells der Klassenbildung auf Basis der Ständegesellschaft und unter den Zwängen des Modernisierungsprozesses beschrieb Kocka im zweiten Band die Herausbildung der Arbeiterklasse mittels Durchsetzung der Lohnarbeit und der Proletarisierung. Er identifizierte die entscheidenden Merkmale der entstehenden Arbeiterklasse und beobachtete auch quer zu den Klassenunterschieden entfaltete Probleme wie Geschlechterdifferenzen und Alltagskulturen. Ein dritter Band, der die großen Linien der Geschichte der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert zusammenfassen wird, steht vor der Vollendung.
Als Direktor des Bielefelder „Zentrums für interdisziplinäre Forschung“ (1983-1988) konfigurierte Jürgen Kocka schließlich die inhaltlichen und methodischen Vorgaben des Sonderforschungsbereichs „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“, der bis 1997 von der DFG finanziert wurde. Interessiert an den großen Linien der „Vergesellschaftlichung“, ging das Projekt von einer zentralen Rolle des Bürgertums in den Modernisierungsprozessen seit dem späten 18. Jahrhundert aus und suchte so die These vom „deutschen Sonderweg“ mit den spezifischen Schwächen des deutschen Bürgertums zu untermauern. Zahlreiche Einzelstudien untersuchten im Rahmen des Forschungsverbunds die Entwicklung des Bürgertums, sein Verhältnis zu anderen Schichten sowie seinen inneren Zusammenhalt, der es rechtfertigt, vom Bürgertum als übergreifende Kategorie zu sprechen. In konsequenter Fortentwicklung seiner Forschungen zur Bürgertumsgeschichte gilt ein wesentliches Interesse Kockas in neuerer Zeit der „Geschichte der Zivilgesellschaft“, die auf den Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Markt und Privatsphäre fokussiert und sich als normatives Konzept insbesondere durch den Rekurs auf die Individuen auszeichnet. Kocka gilt als einer der einflussreichsten Mentoren dieses jungen historischen Forschungsfeldes, das – wie es für die Arbeit Kockas typisch ist – erneut eine stark vergleichende Perspektive einnimmt. Institutionell verankert Kocka diese Forschungsrichtung aktuell vor allem am „Wissenschaftszentrum für Sozialforschung“ in Berlin (WZB), dessen Präsident er seit 2000 ist. Kocka übt diese Funktion in Verbindung mit der 1988 angetretenen Professur an der FU Berlin aus. Als erster Historiker an der Spitze der größten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtung Europas stellt Kocka hier erneut seinen interdisziplinären Anspruch unter Beweis. Diesem war auch die maßgeblich von ihm initiierte und aus dem an ihn verliehenen Leibniz-Preis finanzierte Gründung der „Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte“ geschuldet, aus der 1997 das „Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas“ in Berlin hervorging. Als Mitbegründer des „Zentrums für Zeithistorische Forschungen in Potsdam“ und Autor zeitkritischer Studien gehörte Kocka zu den maßgeblichen Wegbereitern des Zusammenwachsens der Wissenschaftslandschaften in Ost und West. Ehrungen unterschiedlichster Art brachten ihm für diese zahlreichen Aktivitäten auch den gebührenden öffentlichen Lohn, der zudem auf einen weiteren Punkt verweist: die Rolle Kockas als „public historian“, wie ihn seine Schüler in einer zu seinem 60. Geburtstag herausgegebenen Sammlung seiner journalistischen Texte bezeichnen. Als Wissenschaftler, Wissenschaftsmanager und nicht zuletzt als Präsident des Comité International des Sciences Historiques (CISH) hat er immer wieder in öffentliche Debatten der letzten beiden Jahrzehnte eingegriffen. Insbesondere zu Fragen der Vergangenheitsbewältigung und Geschichtspolitik, zum deutschen Nationalstaat und zum Wandel der Erwerbsarbeit hat er dezidiert Stellung genommen und eine erinnernde und analytische Beziehung zur Vergangenheit eingefordert.
Mit Jürgen Kocka wird daher ein Historiker ausgezeichnet, der die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung, ja, die gesamte Geschichtswissenschaft der vergangenen vierzig Jahre maßgeblich geprägt hat. Dabei sind für ihn nicht allein die hohe Produktivität und die theoretische und methodische Innovationskraft kennzeichnend; Jürgen Kocka ist auch im positiven Sinne stets ein „politischer“ Historiker gewesen, der Geschichtswissenschaft als wesentliches Moment gesellschaftlicher Selbstaufklärung begreift. Diese Selbstaufklärung war in den vergangenen Jahrzehnten eng an die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit gebunden, die, wenn auch nicht explizites Thema von Kockas Arbeiten, doch stets ihr normativer Angelpunkt blieb. Diese Orientierung - der Anspruch, das zugleich moderne wie katastrophale 20. Jahrhundert, dessen Teil man ja selbst gewesen ist, zu durchdringen, kennzeichnet die „moderne Sozialgeschichte“: historisches Begreifen, um gerade nicht zu wiederholen. Mit dieser expliziten Zeitgenossenschaft ist man stets in der Gefahr, auch deren Fehler zu teilen. Aber Jürgen Kocka hat die Wiederkehr der Geschichte mit Mauerfall und Wiedervereinigung als neue Herausforderung gesehen und die Zeitgenossenschaft noch einmal erneuert. Insofern ist er nicht bei dem „Aufbruch“ der 1960er Jahre stehen geblieben, sondern hat auch die Probleme eines zusammenwachsenden Europas und einer globalisierten Welt auf ihre zivilgesellschaftliche Dimension und Tragfähigkeit hin befragt. Die eigentümliche Widersprüchlichkeit von Teilhabe und kritischer Distanz macht den Kern der „politischen“ Geschichtswissenschaft des Jürgen Kocka aus. Sie sorgt dafür, dass die Wissenschaft nicht den Forderungen des Tages untergeordnet wird, aber eben auch dafür, dass der Historiker seiner gesellschaftlichen Rolle gerecht wird. Dies ist, so glauben wir, aller Ehren wert.

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